Die analoge und digitale Zukunft des ITS
Die Dokumente im Archiv des International Tracing Service (ITS) bilden ein kulturelles Gedächtnis an die Opfer des Nationalsozialismus und an die Folgen der NS-Verbrechen. Wir haben 2016 viel erreicht, um den Erhalt der bedeutenden Sammlung zu sichern. Ich spreche dabei vor allem vom neuen Archivgebäude, das in Bad Arolsen errichtet werden wird. Bei der Planung liegen wir im Zeitplan. Die von der UNESCO als Weltdokumentenerbe ausgezeichneten Dokumente werden nach Fertigstellung des Gebäudes dann archivgerecht aufbewahrt und somit für kommende Generationen geschützt.
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Je mehr Menschen das Archiv nutzen können, desto größer ist sein Wert. Das erreichen wir, indem wir die Dokumente online bereitstellen. Darin sehe ich eine zentrale Aufgabe für die kommenden Jahre. Die Voraussetzungen sind gut: Kaum ein anderes Archiv bietet einen so hohen Digitalisierungs- und Erschließungsgrad wie der ITS.
Ich blicke auf ein spannendes erstes Jahr als Direktorin zurück. Wir haben die Voraussetzungen dafür gelegt, die Bedeutung dieser einmaligen Institution international sichtbarer zu machen. Das ist durch eine Strategie- und Zielplanung gelungen, die ein Team von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern mit viel Einsatz und Effizienz erarbeitet hat. Der Internationale Ausschuss des ITS hat dieser Planung vorbehaltlos zugestimmt.
Der ITS verändert sich – auch die Gestaltung und Inhalte des Jahresberichts. Erstmals erscheint der Bericht 2016 in einer Online-Version auf unserer Website. Mehr Grafiken illustrieren die Arbeit des ITS. Eine Zahl daraus möchte ich hervorheben. 2016 haben sich 15.635 Menschen mit ihren Fragen zu NS-Verfolgten an den ITS gewendet. Die Suche nach Antworten, der Wunsch Leerstellen in der Familiengeschichte zu füllen bleibt – auch nach mehr als sieben Jahrzehnten.
Floriane Hohenberg
Menschen und Geschichten
Die Geschichte einer großen Liebe

Als Lilia Iwanowa längst nicht mehr damit rechnete, erfuhr sie, wer ihr Vater war. Und nur kurze Zeit später lernte die Ukrainerin Verwandte in Frankreich kennen, die ihr von ihren Eltern erzählen konnten.
Als am 25. September 1945 ihr Baby zur Welt kam, glaubten die Ukrainerin Alexandra Istomina und der Franzose Leon Bardoux an ein Happy End nach Zwangsarbeit, Krieg und Not. Mit 19 Jahren war sie 1942 ins Deutsche Reich verschleppt worden. Zwei Jahre später lernte sie in Duisburg den Zwangsarbeiter Leon Bardoux kennen. Die Hoffnung auf ein glückliches Leben nach der Befreiung währte nur kurz: Im Winter 1945 wurde Alexandra mit der neugeborenen Lilia aus Frankreich in die Sowjetunion zwangsrepatriiert. Lilia verlor damit beide Eltern: Ihre Mutter starb 1947 an den Folgen einer Lungenentzündung, die sie sich auf dem Transport zugezogen hatte. Ihren Vater sah sie nie wieder.
Erst mit 65 Jahren erfuhr Lilia von einem Onkel den Namen ihres Vaters und begann damit, nach Spuren von Leon Bardoux zu suchen. Ihre Anfrage beim ITS hatte Erfolg. Eine in zahlreichen französischen Ämtern und Archiven breit angelegte Suche brachte den maßgeblichen Hinweis: Leon Bardoux war 1989 in Amiens gestorben. Es gelang, sein Grab ausfindig zu machen und – über die Frage nach den Verantwortlichen für die Grabpflege – den ersten Hinweis auf die Verwandten von Lilia zu bekommen.
Durch den ITS fand sie eine große Familie, sogar ihre Halbschwester aus der späteren Ehe von Leon Bardoux. Zunächst lernten sie sich per Telefon und E-Mail kennen, dann reiste Lilia mit ihrer Familie nach Frankreich. Die Enkelin beschreibt den Moment des ersten Treffens mit Halbschwester Dominique so: „Sie lief auf uns zu, und wir sahen Freudentränen in ihren Augen. Sie umarmte meine Großmutter. Dieser Anblick war unbeschreiblich.“ Lilia hörte viel über die große Liebe ihrer Eltern, über ihren Vater und konnte sein Grab besuchen. Außerdem erhielt sie in Lille ihre Geburtsurkunde. (Bild: Léon und Alexandra als Paar 1945, Foto: Privat)
Erstes gemeinsames Foto der Eltern

Joost de Snoo trägt den gleichen Namen wie sein Vater, Erinnerungen an ihn hat er kaum. Er war drei Jahre alt, als sein Vater im August 1944 verhaftet und über das Polizeiliche Durchgangslager Amersfoort in das Konzentrationslager Neuengamme deportiert wurde. Bei der Inhaftierung nahm die Gestapo dem Vater die Brieftasche mit Familienfotos ab. Im Januar 1945 starb Joost de Snoo im KZ Neuengamme. 71 Jahre später, im Mai 2016, hielt sein Sohn beim ITS die Brieftasche in Händen. Bis zu diesem Tag kannte er keine Fotos, auf denen seine Eltern und er gemeinsam zu sehen waren. „Dass ich diese Reise gemacht und die Dokumente geholt habe, freut mich sehr. Für meinen Vater, den ich nicht gekannt habe.“ (Bild: Anna Meier-Osiński, Leiterin der Abteilung Auskunftserteilung zu NS-Verfolgten beim ITS, zeigt die beim ITS verwahrten Dokumente, Foto: ITS)
Glückliches Kennenlernen

Sie lebt in Deutschland, er in Israel: Tochter und Sohn eines Holocaust-Überlebenden haben durch den ITS voneinander erfahren. Der 1920 in Rumänien geborene Nathan Ulinski kam 1947 gemeinsam mit seinen zwei Schwestern und seiner Mutter in ein amerikanisches Camp für sogenannte Displaced Persons (DPs) in der Heidenheimer Voith-Siedlung. Er lernte eine deutsche Frau kennen, Ruth, und die beiden verliebten sich. Sie führten eine heimliche Beziehung und bekamen 1948 ihren Sohn Gerhard und im Frühjahr 1949 eine Tochter – Ursula. Doch noch bevor Ruth ihre Tochter auf die Welt brachte, war Nathan nach Israel emigriert. Der Kontakt nach Deutschland brach ab. „Er war ihre große Liebe“, berichtet Ursula. „Das war das Einzige, was meine Mutter uns verraten hat.“ Nach dem Tod der Mutter begann Ursula nach ihrem Vater zu suchen und wandte sich 2014 an den ITS. In der Geburtsurkunde von Ursula war der Name des Vaters als Unlinczki angegeben. Die üblichere rumänische Schreibweise ist jedoch Ulinski. Der ITS suchte mit diesem korrigierten Namen, auch über die israelische Hilfsorganisation Magen David Adom. Es stellte sich heraus, dass Nathan Ulinski bereits 1986 gestorben war, jedoch 1956 einen weiteren Sohn bekommen hatte. Im September 2015 rief Ursula zum ersten Mal ihren Halbbruder Eli in Israel an. „Das war so ein Moment, den man nie vergisst.“ Seitdem telefonieren die Geschwister wöchentlich miteinander, häufig sind auch ihre Kinder dabei. Im Juni 2016 trafen sich die beiden dann: „Meinen Bruder Eli kennenzulernen, ist ein ganz großes Geschenk, mit dem ich nie gerechnet hätte.“ Auch Eli war glücklich. Er hatte bis dahin fast nichts über das Leben seines Vaters vor der Emigration gewusst: „Mein Vater war ein sehr herzlicher, aber schwerkranker Mann. Er hat nicht über die Vergangenheit sprechen wollen.“ (Bild: Ruth als junge Frau in Heidenheim, Foto: Privat)
Unerwarteter Fund zur Familiengeschichte

Eigentlich wollte der US-Amerikaner John Bendetson für Freunde und Bekannte im Archiv des ITS recherchieren. Doch dann fand er unerwartet eine Kopie seiner Geburtsurkunde und Fotos seiner Eltern aus dem Jahr 1951.
Bereits 1940 hatten die Nationalsozialisten Jan Bendetson als Zwangsarbeiter von Warschau nach Fulda verschleppt. „Davon wusste ich nichts. Mein Vater hat über die Zeit kaum gesprochen“, berichtet sein Sohn. Die nächste Spur findet sich erst wieder Ende 1944. Sie führt in ein Kriegsgefangenenlager der Wehrmacht, das Stalag IVb in Mühlberg an der Elbe. Davor hatte sich Jan Bendetson als Untergrundkämpfer in der polnischen Heimatarmee am Warschauer Aufstand beteiligt. „Ein Wehrmachtssoldat habe ihm einmal eine Pistole an den Kopf gehalten. Seine Kameraden hätten ihn jedoch davon abgehalten abzudrücken. Das ist das einzige Erlebnis, von dem mein Vater erzählt hat“, so Bendetson.
Der polnische Widerstandskämpfer überlebte den Krieg und die Gefangenschaft. Er wollte nicht mehr zurück in seine Heimat, sondern in die USA auswandern. Bei den Alliierten ließ er sich als Displaced Person (DP) registrieren und suchte sich eine Arbeit bei der US Armee. 1946 erlitt er einen leichten Unfall im Jeep, kam ins Krankenhaus und lernte dort seine spätere Frau kennen, die als Krankenschwester arbeitete. Jan schloss sein Studium der Architektur in Darmstadt ab. Sie heirateten und bekamen 1951 ihren Sohn John. Das Standesamt Bad Nauheim beurkundete die Geburt. 1956 gelang der jungen Familie schließlich die Ausreise in die USA, wo sie in Connecticut ein Zuhause fand.
Die Stationen der Nachkriegszeit und die Bemühungen um eine Auswanderung sind in den DP-Unterlagen im Archiv des ITS ausführlich dokumentiert. „Die Fülle an Dokumenten ist unerwartet“, sagte Bendetson anlässlich seines Besuchs. „Und die Recherchen des ITS gehen weit über das hinaus, was ich erwartet hätte.“ (Bild: John Bendetson im August 2016 beim ITS, Foto: ITS)
Antwort auf den Abschiedsbrief

Da die Familie immer geschwiegen hat, wusste Jean-Marie Vinclair nichts über seinen Großonkel Raymond, den die Nationalsozialisten im Juli 1944 ermordet hatten. Jetzt dreht er einen Film über Raymonds Schicksal und recherchierte dafür auch im ITS-Archiv.
Ein Anruf des Historikers Volker Issmer aus Osnabrück brachte alles ins Rollen. „Diese Geschichte fand mich“, so Jean-Marie Vinclair. „Ich muss sie erzählen.“ Sein Großonkel Raymond Vinclair war während des Zweiten Weltkriegs Zwangsarbeiter bei der Reichsbahn in Osnabrück gewesen. Der Franzose hatte Kriegsgefangenen bei der Flucht geholfen, wurde von den Nationalsozialisten entdeckt und verhaftet. Er kam zunächst in das Gefängnis Berlin-Plötzensee und wurde dann im Zuchthaus Brandenburg-Görden mit dem Fallbeil ermordet. „Acht Sekunden“ dauerte seine Hinrichtung laut Vollstreckungsbericht, und dies wird auch der Titel des Dokumentarfilms sein. Jean-Marie Vinclair suchte und fand Informationen in verschiedenen deutschen und französischen Archiven, auch beim ITS. Dort liegen Dokumente vor, die Inhaftierung und Ermordung belegen.
Jean-Marie Vinclair erfuhr bei seinem Besuch auch, dass nach dem Krieg ein Verwandter angefragt und Auskunft erhalten hatte. Doch dieser schwieg gegenüber den anderen Familienmitgliedern, denen die linke politische Einstellung des Ermordeten nicht geheuer war. „Die Recherchen haben mich verändert“, räumt der Filmemacher ein. „Es ist wichtig für mich, die Basis meiner Familiengeschichte neu zu legen. Jede Familie hat Fragen an die Geschichte. Das ist das Universelle an dem Film.“
Eine bedeutende Rolle spielt für ihn der Abschiedsbrief, den der Großonkel kurz vor seiner Hinrichtung an seine Eltern geschrieben hatte. „Der Film wird eine Art poetische Antwort auf seine Zeilen sein, stellvertretend für die vielen Opfer“, so der Filmemacher. „Ich frage mich oft: Was hättest du in der damaligen Situation getan? Die Wirklichkeit ist wesentlich komplexer als Gut und Böse.“ Den Film versteht er deshalb auch als Anerkennung und Würdigung des Widerstandes. (Bild: ITS-Mitarbeiterin Nathalie Letierce-Liebig, Jean-Marie und Eve Vinclair in der Zentralen Namenkartei des ITS, Foto: ITS)
Eine Uhr aus dem KZ Dachau

Pater Engelmar Unzeitig starb im März 1945 im KZ Dachau an Typhus, nachdem er erkrankte Mitgefangene gepflegt hatte. Im Juni 2016 konnte der ITS eine Taschenuhr und zwei Ordensmedaillen des Paters an zwei Mitbrüder der Ordensgemeinschaft der Missionare von Mariannhill überreichen. Papst Franziskus hatte Pater Engelmar Unzeitig im Januar 2016 offiziell als Märtyrer der katholischen Kirche anerkannt. Der unter dem Namen Hubert Unzeitig geborene Geistliche wurde im April 1941 von den Nationalsozialisten verhaftet und im darauffolgenden Juni ins Konzentrationslager Dachau verschleppt. Er hatte sich öffentlich für verfolgte Juden eingesetzt. (Bild: Originaldokumente und die persönlichen Gegenstände von Pater Engelmar, Foto: ITS)
Eine Kerze auf dem Grab des Großvaters

Die deutschen Besatzer verschleppten Julian Banaś aus Polen zur Zwangsarbeit nach Deutschland. Er kam nie zu seiner Frau und den drei Kindern zurück. Was ihm passiert war, wusste die Familie nicht, bis seine Enkelin beim ITS anfragte.
Als ihr Vater schwer erkrankte, wuchs bei Źaneta Kargól-Ożyńska der Wunsch, für ihn in Erfahrung zu bringen, welches Schicksal sein Vater erlitten hatte. Und sie hoffte, das Grab zu finden. Beides gelang ihr – mithilfe des ITS. „Wir waren überwältigt davon, wie viel Mühe sich alle gegeben haben, unsere Fragen zu beantworten!“
Aus den Dokumenten im Archiv ging hervor, dass Julian Banaś zunächst bei einem Bauern in Schwerte-Ergste Zwangsarbeit leisten musste. Am 18. Oktober 1941 wurde er unter dem Vorwurf des verbotenen Umgangs mit Deutschen von der Gestapo im Dortmunder Gefängnis „Steinwache“ inhaftiert. Eine 1946 ausgestellte Sterbeurkunde benennt den 27. Juli 1942 als Todestag. Auf der Rückseite dieser im ITS archivierten Urkunde fand sich der entscheidende Hinweis auf sein Grab in Dortmund.
Auf der Suche nach mehr Informationen über die Ermordung trat der ITS in Kontakt mit Alfred Hintz, Autor eines Buches über die NS-Zeit in Schwerte, der bereits einige Jahre zuvor beim ITS angefragt hatte. Er wusste von den tragischen Umständen des Todes: Julian Banaś war von der Gestapo im Ergster Wald hingerichtet worden. Źaneta Kargól-Ożyńska erfuhr auch, dass eine Gedenkinitiative im Jahr 2010 vor dem Rathaus in Schwerte einen „Stolperstein“ zum Andenken an ihren Großvater verlegt hatte.
Anfang August 2016 kam Źaneta Kargól-Ożyńska mit Mann und Tochter nach Deutschland, um das Grab zu besuchen und eine Kerze aufzustellen. Auch reisten sie zum ITS. Beim Durchsehen der Originale fand sich überraschend die Unterschrift des Großvaters. Die schwache Tinte war auf den vorher zugeschickten Scans nicht erkennbar gewesen. Seine Schrift zu sehen, bewegte die Enkelin. (Bild: Malgorzata Przybyla vom ITS zeigt den Gästen aus Polen die Dokumente zum Schicksal von Julian Banaś, Foto: ITS)
„Über solche Menschen möchten wir sprechen“

Von der Lagergemeinschaft Ravensbrück / Freundeskreis haben 16 Mitglieder im September 2016 den ITS besucht. Im Mittelpunkt dieses ersten Besuchs stand die Übergabe von Dokumentenkopien an die Nachfahren der KZ-Inhaftierten.
Wenn Bärbel Schindler-Saefkow Listen der NS-Bürokratie über Deportation, Inhaftierung und Ermordung aus dem ITS-Archiv durchsieht, werden aus den Namen Geschichten: „Marianne Gundermann! Das war eine bekannte Frauenrechtlerin im Umkreis illegaler Parteigruppen. Ich wünsche mir, dass mal jemand ihr Schicksal aufschreibt.“ Die Historikerin und Tochter des hingerichteten NS-Widerstandskämpfers Anton Saefkow und der im Konzentrationslager Ravensbrück inhaftierten Aenne Saefkow hat sich ihr ganzes Leben mit den Widerstandsgruppen aus dem Umkreis ihrer Eltern beschäftigt und sich für das Gedenken an die „Ravensbrückerinnen“ eingesetzt.
Beeindruckt war sie von der großen Zahl an Dokumenten über ihren Vater: „90 Prozent der Unterlagen habe ich noch nicht gesehen, obwohl ich immer schon nach Dokumenten suche.“ Auch für die Lagergemeinschaft betont sie den Wert der ITS-Bestände: „Wir haben wieder neue Namen!“ Auch freut sie sich darüber, dass es gelungen sei, mehr Informationen über die Gründerinnen zu finden: „Die Lagergemeinschaft wurde von starken Persönlichkeiten wie Erika Buchmann aufgebaut, die dafür gesorgt haben, dass aus Ravensbrück – dem Schrecklichen – durch den Zusammenhalt etwas Schönes wurde. Wir möchten als Lagergemeinschaft heute über solche Menschen sprechen.“ (Bild: Die Gäste der Lagergemeinschaft Ravensbrück bei ihrem Besuch beim ITS, Foto: Waldeckische Landeszeitung / Armin Haß)
„Es war mein Wunsch, mehr zu erfahren“

Um Dokumente über ihren Onkel im Original zu sehen und mehr über sein kurzes Leben herauszufinden, reiste die Niederländerin Wendy van Eijnatten im April 2016 nach Bad Arolsen. „Seit ich ein Foto von ihm gesehen hatte, war es mein Wunsch mehr zu erfahren.“ Der am 11. Februar 1923 in Breda geborene Jan van Boeckel war als Widerstandskämpfer in Belgien und hatte sich einer Gruppe der „Front de l'Indépendance“ in den Ardennen angeschlossen. Im Mai 1944 wurde er zusammen mit anderen Widerstandskämpfern verhaftet und als „Nacht-und-Nebel-Häftling“ in das Gefängnis Ebrach in Oberfranken eingeliefert. Im Februar 1945 folgte der Transport in das Konzentrationslager Flossenbürg und die Überstellung in das Kommando Saal/Donau. Dort mussten die Häftlinge unter grausamen Bedingungen Stollen für eine unterirdische Flugzeugfabrik der Messerschmitt-Werke anlegen. Jan van Boeckel starb kurz vor Kriegsende auf einer den Todesmärschen ähnlichen Zugfahrt zum KZ Dachau. Wendy van Eijnatten hat mit Zeitzeugen gesprochen, in zahlreichen Archiven recherchiert und schreibt nun ein Buch über ihre Suche und das Schicksal ihres Onkels. (Bild: Wendy van Eijnatten bei ihrem Besuch im ITS, Foto: ITS)
Tausend Kilometer für den Ring der Mutter

Eugenia Genowefa Mazuchowska überlebte Zwangsarbeit und Konzentrationslager der Nazis und wanderte nach Schweden aus. Das Erlebte behielt sie für sich. Jan Anderson fragte auf den Spuren seiner Mutter beim ITS an. Neben Dokumenten befand sich im Archiv ein Ring von ihr – bei den Effekten aus dem KZ Neuengamme. Jan Anderson nahm den Ring persönlich in Empfang: „Das ist ein großer Tag für mich!“ (Bild: Historisches Foto und Ring von Jan Andersons Mutter, Foto: ITS)
„Meine Familie sah ich nie wieder“

Dagmar Lieblová hat als einzige ihrer Familie das Ghetto Theresienstadt und das Konzentrationslager Auschwitz-Birkenau überlebt. Im Rahmen der Veranstaltungsreihe „Auschwitz“ kam die 87-Jährige im Juli 2016 in die nordhessische Synagoge Vöhl, um aus ihrem Buch „Jemand hat sich verschrieben – und so habe ich überlebt“ vorzulesen. Anna Meier-Osiński, Leiterin der Abteilung Auskunftserteilung zu NS-Verfolgten beim ITS, übergab nach der Veranstaltung Kopien der im ITS-Archiv verwahrten Dokumente über Dagmar Lieblovás Schicksal, darunter eine Karteikarte über die Transporte nach Theresienstadt und Auschwitz sowie zahlreiche Befreiungslisten, auf der ihr Name erscheint. Sie konnte überleben, weil sie durch einen Schreibfehler in ihrem Geburtsdatum auf dem Papier 16 Jahre alt war. So wurde sie im Konzentrationslager Auschwitz als arbeitsfähig eingeteilt und entging der Vergasung. Die Nationalsozialisten schickten Dagmar Lieblová in drei verschiedene Außenlager des KZ Neuengamme zu Aufräumarbeiten im zerstörten Hamburg. Sie wurde auf einen Todesmarsch zum KZ Bergen-Belsen gezwungen, wo die an Tuberkulose erkrankte junge Frau durch die britische Armee befreit wurde. (Bild: Anna Meier-Osiński, Leiterin der Abteilung Auskunftserteilung zu NS-Verfolgten beim ITS, übergab Kopien der im ITS-Archiv verwahrten Dokumente über Dagmar Lieblovás Schicksal, Foto: ITS)
Rückgabe der Brieftasche

Der niederländische Polizist Johannes Wilhelmus Hendrikus Berens starb mit 21 Jahren kurz nach der Befreiung an den Folgen von Zwangsarbeit und KZ-Haft. Für seine Schwester war es unfassbar, nun seine Brieftasche zu erhalten.
Am 11. Oktober 1944 wurde Johannes Wilhelmus Hendrikus Berens vom NS-Staat in das KZ Neuengamme nach Deutschland deportiert. „Zum Arbeitseinsatz“, heißt es lapidar in den Unterlagen, Häftlingsnummer 56240. Seine Schwester, die 87-Jährige Johanna Aykens-Berens erzählt, wie es dazu kam: „Er hat sich geweigert, an der Suche und Deportation von Juden mitzuwirken, die sich vor den Deutschen versteckten.“ Bereits als 16-Jähriger hatte sich Berens zur Polizeischule gemeldet, um den Beruf seines Vaters zu erlernen.
Bei der Einlieferung in das Konzentrationslager musste er seine Brieftasche abgeben. Sie gehörte zum Bestand von Effekten, die im Archiv des ITS aufbewahrt werden. Als Johanna Aykens-Berens von der Brieftasche erfuhr, setzte sie sich mit ihrem Sohn ins Auto und fuhr nach Bad Arolsen. „Ich wollte sie persönlich abholen. Er war mein Bruder, so ein lieber Bub.“ Die Brieftasche zeugt von einem lebensfrohen Menschen: Fotos von Freundinnen und Schulkameraden, Briefe der Mutter, Mitgliedsausweise von Sportclub sowie Tanzverein. Besonders aber freut sich seine Schwester über ein Kinderfoto von ihm.
Bis dahin hatte sie nur ein einziges Foto ihres Bruders besessen, denn das Haus der Familie war beim Bombardement von Rotterdam am 14. Mai 1940 zerstört worden. „Es ist gut etwas zu haben, sehen und anfassen zu können“, sagt auch sein Neffe Janwillem Aykens bei der Überreichung der Brieftasche. Johannes Wilhelmus Hendrikus Berens hatte die Befreiung noch erlebt, starb aber am 11. Mai 1945 an Tuberkulose. (Bild: Johanna Aykens-Berens und ihr Sohn Janwillem Aykens aus dem niederländischen Amstelveen, Foto: ITS)